Der Chef
Marc Pahud von der Panettonerei Schweiz GmbH in Tübach
In diesem Jahr jährt sich der Todestag des Autoren Franz Kafka am 3. Juni zum hundertsten Mal. Aus diesem Grund wimmelt es in Kulturzeitschriften und den Bulletins der Zeitungen von Rückblicken. Germanist Prof. Dr. Mario Andreotti zeichnet ein anderes Bild von einem der meistgelesenen Autoren der deutschen Sprache.
Literatur Franz Kafka gilt vielen von uns als Inbegriff eines unglücklichen Menschen. Mit ihm verbinden wir im Grunde nur Negatives: Pessimismus, Einsamkeit, Krankheit und frühen Tod. Wir stellen uns Kafka gerne vor, wie er in einem kargen, düsteren Zimmer, das nur von einer Kerze erleuchtet ist, über ein Blatt gebeugt am Schreibtisch sitzt und für sich selbst schreibt. Dabei neigen wir zur weitverbreiteten Ansicht, Kafkas Erzählungen und Romane, seien erst nach dessen Tod von seinem Freund Max Brod, den er 1902 kennen gelernt hat, herausgegeben worden, und übersehen gerne, dass vor allem die frühen Erzählungen und kleineren Prosaskizzen schon zu Lebzeiten des Autors veröffentlicht wurden. Ebenso verbreitet ist die Ansicht, dass Kafka erst Jahrzehnte nach seinem Tod Leser gefunden habe, und dies gleichsam gegen seinen Willen, da er testamentarisch die Vernichtung seiner noch ungedruckten Manuskripte verfügt habe. Dass er seit 1912 aus seinen Werken, vor allem aus den Erzählungen «Das Urteil» und «In der Strafkolonie», öffentlich gelesen hat und dass er bereits 1915 aus der Hand von Carl Sternheim den renommierten Fontane-Preis entgegennehmen konnte, wird oftmals vergessen. Richtig ist indessen, dass Max Brod die unvollendeten Romane «Amerika», «Der Prozess» und «Das Schloss» zum Teil Jahre nach Kafkas Tod und sein Tagebuch gar erst 1951 publiziert hat. Doch Brods Beteuerung, er habe «fast alles, was Kafka veröffentlicht hat», diesem mit «List und Überredungskunst» abgefordert, eine Aussage, die in der Kafka-Forschung lange unwidersprochen blieb, kann angesichts von Kafkas reger Publikationstätigkeit nicht länger aufrechterhalten werden. Verabschieden müssen wir uns vor diesem Hintergrund wohl auch von der Vorstellung, dass der Prager Autor 1924 noch völlig unbekannt ins Grab sank.
Eine aufmerksame Lektüre von Kafkas Briefen und Tagebuchaufzeichnungen zwischen 1910 und 1923 sowie die Erinnerungen von Zeitgenossen an ihn würde uns, mit Blick auf sein Leben, eine Reihe von Überraschungen bereiten. Wie soll die Vorstellung vom grossen Einsamen, der in selbstgewählter Abgeschiedenheit, seine rätselvoll-finsteren Geschichten schreibt, mit der Tatsache vereinbar sein, dass Kafka es auch verstand, sein Leben zu geniessen und dass er durchaus die Gesellschaft anderer suchte: dass er beispielsweise mit Max Brod Reisen nach Zürich, Lugano, Mailand und
Paris unternahm, die ihren Niederschlag in seinen Reisetagebüchern fanden, und dass er als junger Mann in den Ferien mit dem Motorrad über die Landstrassen Böhmes knatterte, Tennis spielte, sich für technische Neuerungen wie Flugzeuge und Automobile interessierte, oft ins Kino ging und sich schliesslich mit Freunden ins Prager Nachtleben stürzte. Alles Fakten, die von der Kafka-Forschung kaum oder nur am Rande wahrgenommen wurden. Was dürften die Gründe sein, dass das Bild von Franz Kafka bei vielen Leserinnen und Lesern immer noch recht einseitig ist? Es ist wohl kein Zufall, dass Kafkas Ruhm, von seinem Freund Max Brod gefördert, sich erst nach dem Zweiten Weltkrieg, zuerst in der angelsächsischen Welt verbreitete. Obwohl Kafka schon 1915 für seine ersten Erzählungen, wie bereits erwähnt, den Fontane-Preis erhielt, musste die Menschheit erst das «Zeitalter der Angst», der Bombennächte, KZs und die ganze moderne Brüchigkeit des Seins erleben, ehe sie im Prager Dichter ihre eigene existentielle Situation erkennen konnte. Nicht umsonst hat unsere Epoche den Begriff «kafkaesk» geprägt für etwas, was dunkel, auf rätselhafte Weise bedrohlich, als mit dem Verstande schwer nachvollziehbar erscheint. So gilt denn Franz Kafka nicht nur als berühmtester Junggeselle der Literatur und als wohl meistgelesener Autor deutscher Sprache, sondern auch als einer der verkanntesten Autoren, weil neben der bedrückenden Seite seiner Werke die heitere Seite seines Wesens bis heute nur unzureichend gewürdigt worden ist. Und das trotz der unzähligen Interpretationen, die Kafkas Werke erfahren haben.
Einleitung von Claudia Eugster
Text von Prof. Dr. Mario Andreotti
Prof. Dr. Mario Andreotti, Historiker, Germanist und ehemaliger Gymnasiallehrer, danach Lehrbeauftragter für Sprach- und Literaturwissenschaft an der Universität St.Gallen, ist der Verfasser des Standardwerks «Die Struktur der modernen Literatur. Neue Formen und Techniken des Schreibens», das bereits in der 6., stark erweiterten und aktualisierten Auflage vorliegt.
Aus diesem Strukturband, der sich mit Analyse der modernen Literatur befasst, können Sie unter diesem Beitrag eine Interpretation von Franz Kafkas Parabel «Gibs auf» lesen.
Analyse und Interpretation zu finden in «Die Struktur der modernen Literatur, 6. Auflage» auf Seite 227 ff. von Prof. Dr. Mario Andreotti
Ganz anders nun die moderne, absolute Parabel, wie die folgende Parabel von Franz Kafka, geradezu als Schulbeispiel für die Unerschliessbarkeit des Parabelsinns, illustrieren mag. Die kurze Parabel «Gibs auf» ist wohl 1922 entstanden und findet sich im Band «Beschreibung eines Kampfes», den Max Brod 1936 aus nachgelassenen Papieren Franz Kafkas zusammengestellt und veröffentlicht hat:
Es war sehr früh am Morgen, die Strassen rein und leer, ich ging zum Bahnhof. Als ich eine Turmuhr mit meiner Uhr verglich, sah ich, dass es schon viel später war, als ich geglaubt hatte, ich musste mich sehr beeilen, der Schrecken über diese Entdeckung liess mich im Weg unsicher werden, ich kannte mich in dieser Stadt noch nicht sehr gut aus, glücklicherweise war ein Schutzmann in der Nähe, ich lief zu ihm und fragte ihn atemlos nach dem Weg. Er lächelte und sagte: «Von mir willst du den Weg erfahren?» «Ja», sagte ich, «da ich ihn selbst nicht finden kann.» «Gibs auf, gibs auf», sagte er und wandte sich mit einem grossen Schwunge ab, so wie Leute, die mit ihrem Lachen allein sein wollen.
Der äussere Vorgang dieser Parabel, in der Ich-Form erzählt, erscheint auf den ersten Blick einfach und ganz natürlich: Da geht zu früher Morgenstunde ein Fremder durch die leeren Strassen einer Stadt zum Bahnhof und bemerkt beim Vergleich seiner Uhr mit der am Turm, dass es schon viel später ist, als er geglaubt hat. Er beginnt sich zu beeilen, und da er im Weg unsicher geworden ist, bittet er einen Schutzmann um Hilfe. Es sind dies alles Handlungen, die so auch in einer realistischen Erzählung des
19. Jahrhunderts stehen könnten.
Und trotzdem stimmt hier etwas nicht. Wir ahnen es bereits im zweiten Satz, wenn da von den unterschiedlichen Zeiten der beiden Uhren, d.h. vom Auseinanderklaffen zweiter Zeitsysteme, die Rede ist. Fast wie ein Kommentar zu diesem Satz liest sich eine Tagebuchnotiz Kafkas vom 16. Januar 1922, wo es heisst: «Die Uhren stimmen nicht überein, die innere jagt in einer teuflischen oder dämonischen oder jedenfalls unmenschlichen Art, die äussere geht stockend ihren gewöhnlichen Gang. Was kann anderes geschehen, als dass sich die zwei verschiedenen Welten trennen, und sie trennen sich oder reissen zumindest aneinander in einer fürchterlichen Art […].»
Im Bild von den nicht übereinstimmenden Uhren, von den «zwei verschiedenen Welten» thematisiert Kafka wohl die Erfahrung, dass die wechselseitige Durchdringung von Idee und Erscheinung, von Denken und empirischer Realität, an die man im 19. Jahrhundert noch weiterhin glauben konnte, in der Moderne einer zunehmenden Isolation der Sphären gewichen ist. Diese dissoziierte Wirklichkeitserfahrung wird, besonders vor dem Hintergrund des rätselhaften Schlusses, auch im zweiten Satz der Parabel evoziert. Von ihr her erklärt sich der «Schrecken», der den Fremden ob der Entdeckung seiner ‚falschen‘ Zeit erfasst. In der Antwort des Schutzmanns, der offensichtlich einen anderen Weg als den vom Fremden erfragten, realen Weg zum Bahnhof meint, tritt sie vollends zutage. Was hier, in dieser Antwort auf die Frage nach dem Weg, geschieht, lässt sich als Preisgabe des ‚alten‘ Glaubens an die Einheit von Begriff und Sein oder, strukturell formuliert, von Signifikant und Signifikat auffassen, wie sie für die literarische Moderne insgesamt kennzeichnend ist.
Betrachten wir nun die beiden Figuren in der Parabel. Da ist zunächst das anonyme Ich, der Fremde, der sich, indem er «im Weg unsicher» wird, in einer Mangellage befindet. Wenn er den Schutzmann nach dem Weg fragt, so versucht er, diese Mangellage zu überwinden, wird er aus struktureller Sicht zum Helden. Der Schutzmann selber – man beachte die Bezeichnung für den Polizisten – besetzt von seinem Amt und mit ihm von den Erwartungen des Wegsuchenden her die Position eines Helfers. Doch anstatt dem Fremden den Weg zu weisen, wie das sein Amt gebietet, stellt er ihm eine Gegenfrage, wendet er sich dann «mit einem grossen Schwung ab». Dadurch wird er für den Fremden zum Gegner. So gesehen, erfüllt der Schutzmann zwei einander entgegengesetzte Handlungsfunktionen: die durch sein Amt gegebene Funktion des Helfers und die des Gegners, ist seine semantische Position, anders als die einer traditionellen Figur, aufgelöst. Zur Auflösung der ‚Wirklichkeit‘ tritt in unserer Parabel demnach die Auflösung der Figur, der Identität von Amt und Person.
Aber damit nicht genug: Der Schutzmann ist nicht nur auf eine paradoxe Weise Helfer und Gegner, sondern darüber hinaus auch Auftraggeber, insofern nämlich, als er den Fremden auffordert, die Suche nach dem Weg aufzugeben. Wir haben es hier mit einer ‚Aufsplitterung‘, einer Montage der Figur zu tun, wie wir sie in vielen Parabeln Kafkas vorfinden. Dass der Schutzmann einen anderen Weg als den realen meint, wurde bereits gesagt. Doch um was für einen Weg es sich handelt, bleibt offen. Offen bleibt damit auch der Sinn der Parabel, da ein vermittelnder und sanktionierender Erzähler fehlt. Ist er, wie in der Kafkarezeption üblich, im biographischen, im psychologischen, im sozialen oder gar im religiösen Bereich zu suchen? Wir erfahren es nicht. Einzig die Endgültigkeit der Worte «Gibs auf», durch ihre Wiederholung
noch unterstrichen, ist uns gewiss.
Anstatt mit einem vermittelnden Schluss und einer deutlichen Schlusssanktion des Erzählers wird hier der Leser mit einem ‚offenen Bedeuten‘, einer latenten Unbestimmtheit konfrontiert. Diese Unbestimmtheit, die weniger die Möglichkeit unterschiedlicher Interpretationen als vielmehr die Unmöglichkeit einer ‚eindeutigen‘ Auslegung meint, ist nicht nur ein Merkmal der absoluten Parabel, sondern grundsätzlich aller wirklich modernen Texte. Freilich hat Kafkas Parabel, indem sie auf eine ‚feste‘ Bedeutung verzichtet, nicht einfach keinen ‚Sinn‘; vielmehr zeigt sie auf, wie der Mensch immer von Neuem versucht, seiner Existenz einen Sinn abzugewinnen, auch wenn er weiss, dass dieser Versuch in einer sinnentleerten Welt zum Scheitern verurteilt ist. Ihre Nähe zum Existentialismus, vor allem zum Denken Albert Camus‘, ist denn auch auffallend (vgl. S. 86 ff.).
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