Die Chefs
Fabio Rohrer und Roger Küng von BikeNinja in Rorschach
Welcher Schritt zurück in die Vergangenheit ist kürzer – 75 Jahre oder ein halbes Jahrtausend? Eine unsinnige Frage – geneigte Leserschaft? – Sicher, aber nur auf den ersten Blick. Denn, ich hatte in meiner frühen Jugendzeit nur einen Augenblick benötigt, um einen ungeheuren Schritt in die Vergangenheit zu tun.
Rorschach Nur kurz musste ich in meiner Jugend um einen Schritt in die Vergangenheit zu tun die St.Gallerstrasse überqueren – vor 75 Jahren noch gefahrlos möglich – um das Mittelalter dann buchstäblich mit Händen greifen zu können, wenn ich die graue Mauer des alten «Siechenhauses» von Rorschach anfasste.
Das unheimliche Haus lag zwischen dem ehemaligen Restaurant «Cardinal» und der «Fuhrhalterei Albert Fehr» an der St.Gallerstrasse 30. Ich strich jeweils etwas beklommen an den Feuchtmonden des leicht moderigen Gemäuers entlang, das sich völlig deplatziert und aufsässig – des späteren Strassenverlaufs spottend – viel zu nahe der Fahrbahn entlang bauchte. Ich betastete die, jetzt immer verschlossene, vordere Holztüre. Durch diese also, drängten sich die armen Kranken, ihre «Siechenklapper» schlagend, auf den staubigen Karrenweg, um Vorüberziehende um eine milde Gabe anzubetteln, die ihnen wohl auch etwa zugeworfen wurde. Wer – in der damaligen Ausdrucksweise – «siech» (leprös) geworden war, kam in dieses Haus, weit ausserhalb des «Dorfes» Rorschach, «am väld an der landtstrass gelegenn mit sinem inkommen.» Kalt starrt es uns an, aus den alten Akten: «Sondersiech / Feldsiechen» – Der Kranke hatte «Bettgewand und Hausrat nebst 21 Pfund Pfennig dem Pfleger zu übergeben».
Rorschacherberg, Tübach, Eggersriet und andere Nachbargemeinden, hatten kein «Siechenhaus» und mussten im Jahre 1567 eine Benutzungsgebühr von 270 Gulden an das «Siechenhaus» Rorschach entrichten. Gebaut wurde das Haus im 15. Jahrhundert, bestand aber, nach Ansicht von Historikern, schon weit früher. Nachdem der «Aussatz» in unseren Breiten besiegt war, diente das Gebäude als Armenspital für Unheilbare, später als «Armenleutehaus». Noch später wurden bescheidene Mietwohnungen eingerichtet. Die Besitzer wechselten, bis es 1925 an den Gemischtwarenhändler «Hans Mischler» (Nomen est omen) ging, der an der Ostecke das Quartierlädeli «Mercerie – Colonialwaren» einrichtete. Nach Mischler übernahm die gewitzte Appenzellerin Fräulein «Emile Wild» das malerische Lädeli. Das ganze Quartier nannte sie kurz und treffend «Milä» – 1944 kam die Liegenschaft, bis zum Abbruch 1970/71, an den «Fuhrhalter Albert Fehr».
Atmen wir jetzt aber tief durch und bleiben wir für den Rest in den zu Ende gehenden vierziger Jahren des vorigen Jahrhunderts. An der westlichen Seitenmauer des «Siechenhauses», zur Einfahrt der Fuhrhalterei, war schon lange Zeit eine Wäschehänge mit Haken an der alten Mauer befestigt. Ein braver Ehemann holt eben trockene Wäsche herunter. Ausgerechnet jetzt trampelt gemütlich auf seinem Fahrrad ein Kollege Richtung Goldach. Damals hatte es noch durchaus einen leichten Stich ins Lächerliche, wenn ein ausgewachsenes Mannsbild «Frauenarbeit» verrichtete. Der freundliche Gruss vom Velo herüber hört sich auch ganz so an: «Häsch Troches, Albert?» Der Angerufene tut als habe er nicht verstanden und verstaut grimmig eine Handvoll Wäscheklammern im herabhängenden Stoffsack. Reizende Kleinstadtszene, fast wie im Film «Oberstadtgass» von «Schaggi Streuli». Gehen wir doch noch einigen nach und folgen wir vom Landhausplatz, mit der prächtigen Linde, der St.Gallerstrasse abwärts an der hübschen Villa «Monbijou» vorbei.
Sie gehörte «Dr. med. Ottiger», der hier über fünfzig Jahre lang praktizierte. Doktor Ottiger war ein feines Herrchen mit silberner Brille, ganz so, wie Kinder sich damals einen Doktor vorstellten. Während Ottigers Abwesenheit kam sein Vertreter zum kranken «Titus Müller» an der St.Gallerstrasse. Sofort krähte der Kleine aus seinem Bett: «I wott de schön Herr Tokter!» Die Szene ist mir verbürgt – Mein Vater erfuhr alles in seinem Herrensalon. «Monbijou» war erst Ende des 19. Jahrhunderts, im Jugendstil, erbaut worden. Mit einem schönen Erkertürmchen umgeben von einem natürlichen Baumbestand. Es half alles nichts. Die malerische Kleinvilla musste dem klotzigen Hochhaus weichen. «Hans Labhart», unser grösster Fotograf, kämpfte mit Fotos und Texten wie ein Löwe um das Juwel – umsonst.
Nun aber dringt aus der Schmiede an der unteren St.Gallerstrasse das Kling und Klang vom Amboss des Meisters «Mülhaupt» an unser Ohr. Wie oft stand ich am offenen Tor seiner Werkstatt und sah die züngelnde Lohe meterhoch aufschiessen, wenn der Meister mit dem Blasebalg die glühende Esse blies – Ein rechter «Schmiedgott Vulkan». Ein Feuerarbeiter mit geschwärztem Gesicht, wie Gott «Volcanus», der mit Feuerzange und Hammer das glühende Eisen auf dem Amboss im uralten Takt zurecht schlug, dass die Funken wie glühende Wassertropfen zu Boden strömten und durch die dunkle Werkstatt sprangen. Was für ein unvergesslicher Anblick, wenn er – halb auf dem Gehsteig draussen – ein Pferd beschlug.
Im Weitergehen traut man wirklich seinen Ohren nicht. Hören wir recht? Ja, beim Näherkommen wird tatsächlich gemütliche, leise Ländlermusik vernehmbar, die bei jedem Schritt lauter wird und von einem «Schwizerörgeli» kommen muss, das in einem kleinen, direkt am Trottoir stehenden Häuschen gespielt wird. Es ist ein kleiner Kiosk, der am Rande zur Hofeinfahrt des Hauses «Negropont» stand. Er gehörte «August Häne-Ringer», dem Onkel vom jungen «Töneli Ringer», der ihn «Onkel Gusteli» nannte. Seine Frau war eine Ringer und die beiden wohnten im Hause dieser Frau, gegenüber an der St.Gallerstrasse. Dieses kleine Kioskhäuschen hatte eine grosse Vergangenheit: Es war lange Zeit das «Zollhüsli» von Rorschach, darum auch so massiv gebaut, mit Holzläden vor dem einzigen Fenster, Giebeldächlein und Biberschwanzziegeln. Der «Kioskier» August Häne war ein drolliges Original. Manchmal sass er vor seinem Häuschen, blies auf seiner «Schnoregige» oder spielte auf seinem Schwizerörgeli. Man musste einfach stehen bleiben.
Sein Neffe «Anton Ringer» ist heute der älteste männliche Vertreter der Familie, schlägt sich aber immer noch sehr munter in die Schanze für seine Heimatstadt Rorschach. Sein Urgrossvater Anton Ringer, aus Süddeutschland eingewandert – von dort, wo schon seit je tüchtige Leute zu uns kamen – begründete im Jahre 1890 die Familiendynastie «Metzger Ringer». Später wurde dann das uralte Haus «Negropont» (Baujahr 1475), Wohn- und Geschäftssitz der berühmten Familie. Was soll aber der exotisch klingende Name «Negropont»? In Diensten der Republik Venedig zogen im Jahre 1688 21 junge Männer aus der Gegend um Rorschach in den Kampf um die türkische Festung «Negropont» in der Aegäis. Nur zwei der Söldner kehrten lebend nach Rorschach zurück. Zu Ehren der 19 Gefallenen gab man dem uralten Haus diesen Namen.
Von Hans Köchli.
Hans Köchli ist Autor der Dokumentation «Die Rorschacher Freilichtspiele» und Verfasser der Gastbeiträge aus der Serie «Erinnerungen an eine vergangene Stadt» für die Bodensee Nachrichten.
Die Dokumentation «Die Rorschacher Freilichtspiele – Erinnerung an eine vergangene Stadt» ist im lokalen Buchhandel bei der Buchhandlung WörterSpiel an der Hauptstrasse 65 in Rorschach erhältlich. Sie ist ausserdem ist in der Nationalbibliographie «Das Schweizer Buch» und im Katalog «Helveticat» zu finden und ein Exemplar ist in der Bibliothek Hauptpost (Kantons- und Stadtbibliothek St.Gallen) zur Ausleihe verfügbar.
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