Das Teppenhaus
meldet sich am Wochenende zurück aus Konzert- Sommerpause
Geschichtliche Kenntnisse, vor allem die grundlegende Tatsache, dass das Wissen um die Vergangenheit Teil unserer Kultur ist, scheinen in der heutigen Generation mehr und mehr in Vergessenheit zu geraten. Es droht weitverbreitete historische Amnesie. So entstand 1848 die moderne Schweiz – wissen wir das noch?
Schweiz Die Marginalisierung des Fachs Geschichte an unseren Schulen ist zu bemängel, hält es doch, wie kaum ein anderes Fach, letztlich Antworten auf die eine grosse Frage bereit: Wie sind wir zu dem geworden, was wir sind? Eine Frage, die gerade heute, wo wir am 12. September das 175-jährige Bestehen unserer Bundesverfassung und damit des modernen Bundesstaates feiern, von besonderer Bedeutung ist: Wie kam es, dass aus einem losen Staatenbund mit verschiedenen Sprachen, Bräuchen und Konfessionen mitten im europäischen Revolutionsgewitter ein Bundesstaat mit nationalem Selbstbewusstsein entstehen konnte? Und was bedeutet dieser Wandel von der alten Eidgenossenschaft aus 22 souveränen Kantonen zur modernen Schweiz für uns heute?
Zunächst aber ein paar Fakten zur Vorgeschichte von 1848. Dem neuen Bund ging seit der Regeneration 1830 die politische Auseinandersetzung zwischen den Liberalen mit ihrer Forderung nach einem Bundesstaat und den Konservativen, die an der Ordnung aus dem Bundesvertrag von 1815 festhalten wollten, voraus. Es kam dabei zu heftigen ideologischen, ja sogar zu militärischen Kämpfen, manchmal nah am Abgrund vorbei. Da waren 1841 der klerikale Umschwung mit der Jesuitenberufung in Luzern und der Klosterstreit im Aargau, da waren drei Jahre später die zwei Freischarenzüge radikaler Hitzköpfe gegen die konservative Hochburg Luzern, die für die Liberalen zum Desaster wurden, und da war schliesslich der katholische Sonderbund der Urkantone mit Luzern, Zug, Freiburg und Wallis, der 1847 zum Sonderbundskrieg führte, nachdem die Tagsatzung mit einer knappen Mehrheit den Sonderbund am 20. Juli 1847 für bundeswidrig und aufgehoben erklärt hatte. Der Sonderbundskrieg ist der letzte Krieg auf schweizerischem Boden. An die Spitze der Tagsatzungstruppen wählte die Tagsatzung den Genfer Guillaume-Henri Dufour, der seine zahlenmässig überlegenen Truppen mit dem Ziel führte, Blutvergiessen möglichst zu vermeiden. Mit 104 Todesopfern forderte der Krieg denn auch einen relativ geringen Blutzoll.
Die Sieger im Sonderbundskrieg gingen unverzüglich daran, ihren Erfolg in eine neue Bundesordnung umzusetzen. Bei den Beratungen über die neue Verfassung blieben die alten Abgrenzungen zwischen den weltanschaulichen und politischen Gruppierungen jedoch erhalten. Die Konservativen hofften, so viel Föderalismus wie möglich zu retten und damit die Souveränität der Kantone im Kern zu bewahren, während die Radikalen auf das Prinzip der unmittelbaren Volkssouveränität in einem Einkammer-Einheitsstaat, nach dem Vorbild von Frankreich, setzten. So kam die liberale Mitte glücklicherweise zum Tragen. Dass die Schweiz nicht ein absoluter Einheitsstaat nach dem Vorbild des Napoleonischen Frankreich oder des aufklärerischen Preussenstaates Friedrichs II geworden ist, verdanken wir nicht zuletzt der Einsicht der konservativen Kräfte in der Schweiz, die durch ihren Widerstand gezeigt hatten, wie wichtig ihnen eine gewisse politische und kulturelle Selbständigkeit war.
Die Bundesverfassung von 1848 war denn auch Kompromiss und genialer Wurf zugleich. Kompromiss insofern, als sie einen Ausgleich zwischen dem helvetischen Einheitsstaat von 1798 und dem lockeren Staatenbund von 1815 darstellte. Dieser Ausgleich zwischen Zentralismus und Föderalismus, der sich, nach amerikanischem Vorbild, bis heute im Zweikammersystem von National- und Ständerat erhalten hat, war für die geografisch, sprachlich, konfessionell und geschichtlich so unterschiedliche Eidgenossenschaft die einzig richtige Lösung, auch wenn fortan der Grundsatz galt, wonach Bundesrecht Kantonsrecht bricht. Dass es sogar gelungen war, die im Sonderbundskrieg von 1847 unterlegenen katholisch-konservativen Kantone in die Beratungen der Verfassung miteinzubeziehen, war dem Einfluss gemässigter liberaler Männer zu verdanken. Die Revisionskommission der Tagsatzung benötigte ganze 51 Tage, vom Februar bis April, um die neue Verfassung auszuarbeiten.
Die Bundesordnung von 1848 war aber nicht nur ein Kompromiss, sondern auch ein genialer Wurf. Die Schweiz war 1848 das einzige Staatswesen in Europa, das eine freiheitliche Verfassung besass, in welchem die liberale Revolution der 1848er Jahre dauernden Erfolg hatte. Denn was in der Schweiz nach dem kurzen Sonderbundskrieg im November 1847 mit der Arbeit an einer neuen Verfassung auf bestem Weg war, das steckte in den umliegenden Ländern, in Deutschland, Österreich-Ungarn, Frankreich und Italien, noch in den Kinderschuhen, und das obwohl unsere badischen Nachbarn vor 175 Jahren auch für die Demokratie kämpften und schon die Juli-Revolution von 1830 nach den Worten von Fürst Klemens von Metternich, dem damaligen österreichischen Aussenminister, wie der «Durchbruch eines Dammes» wirkte.
Die für die Bürger wichtigste Leistung des neuen Bundesstaates war die Gewährung der persönlichen und der politischen Freiheitsrechte, auch wenn bis 1866 noch Einschränkungen in Bezug auf die freie Religionsausübung und das freie Niederlassungsrecht bestanden. Dazu kam die Einführung einer demokratischen Grundordnung, zunächst in der Form der repräsentativen Demokratie, die nur durch die Verfassungsinitiative durchbrochen wurde. Unter dem starken Einfluss der Demokratischen Partei wandelte sich die repräsentative Demokratie in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in eine halbdirekte Demokratie, wie wir sie heute noch haben: Die Mitglieder des Bundesrates werden durch die Vereinigte Bundesversammlung (National- und Ständerat), also nur indirekt durch das Volk, gewählt. Das Volk wählt einerseits seine Vertreter ins Parlament und kann andererseits mit der Volksinitiative Verfassungsänderungen vorschlagen und sich mit dem Gesetzesreferendum gegen ein vom Parlament beschlossenes Gesetz aussprechen. Freilich blieben die Frauen von 1848 bis 1971 auf Bundesebene aus dem politischen Leben ausgeschlossen. Der Gesetzgebungsprozess dauert in der Schweiz manchmal jahre- oder gar jahrzehntelang. So legte beispielsweise eine Verfassungsbestimmung von 1945 die Grundlage zur Errichtung einer Mutterschaftsversicherung. In Kraft getreten ist das entsprechende Gesetz erst im Jahr 2005, also nicht weniger als sechzig Jahre nach dem Grundsatzbeschluss.
Die Bundesverfassung von 1848, um zu ihr zurückzukehren, ist im Wesentlichen ein verdienstvolles Werk des politischen Liberalismus, auch wenn dahinter der aufklärerische Radikalismus stand, der unter anderem ein Verbot des Jesuitenordens in allen Teilen der Schweiz durchgesetzt hatte. Wie sehr der neue Bundesstaat parteipolitische bestimmt war, ergibt schon die Zusammensetzung des ersten Bundesrates, der mit dem Winterthurer Jonas Furrer an der Spitze nichts weiteres war als ein Zentralausschuss der liberalen Partei. Erst 1892 wurde durch die Berufung des Luzerners Josef Zemp in den Bundesrat die mehr als vier Jahrzehnte entrechtete katholisch-konservative Partei in die Mitverantwortung für den Bund eingebunden.
Die Bundesverfassung, die nach und nach an die sich verändernden Gegebenheiten angepasst wurde und die, nach der gescheiterten Totalrevision von 1977, seit 1999 in der dritten, totalrevidierten Fassung vorliegt, ist das Fundament einer stabilen Demokratie, auf die wir zu Recht stolz sein dürfen, die uns aber auch verpflichtet, angesichts der Gefahren, die heute von autokratischen Regimes ausgehen, zu ihr Sorge zu tragen. Dazu braucht es allerdings ein vertieftes historisches und politisches Wissen. Denn nur wer die Vergangenheit und die Institutionen unseres Landes kennt, ist fähig, auf die brennenden Fragen, die dieses Land beschäftigen, zu antworten. Der Geschichtsunterricht an unseren Schulen ist entsprechend gefordert.
Von Mario Andreotti, Germanist und Historiker.
Prof. Dr. Mario Andreotti, Dozent für Neuere deutsche Literatur und Historiker und Germanist, hat sich auch in seinem vielbeachteten Buch «Eine Kultur schafft sich ab. Beiträge zu Bildung und Sprache» (Verlag FormatOst) zur Marginalisierung der Schweizer Geschichte an unseren Schulen kritisch geäussert.
Informationen über das Entstehen der Bundesverfassung finden Sie online unter:
www.hls-dhs-dss.ch/de/articles/009811/2023-06-29/
Und alles über Schweiz finden Sie im HLS / Historischen Lexikon der Schweiz: www.hls-dhs-dss.ch
Quelle Titelbild und Bild 4 Burgerbibliothek Bern, Gr.D.63: https://katalog.burgerbib.ch/detail.aspx?ID=112083
Ausschnitt aus dem Gedenkblatt, das anlässlich der Inkraftsetzung der Bundesverfassung am 12. September 1848 erschien. Lithografie von Caspar Studer, Winterthur, gedruckt von Johann Jakob Ulrich in Zürich, 1848, 70 x 46,7 cm (Burgerbibliothek Bern, Gr.D.63).
Die in der Mitte thronende Helvetia – das Motiv geht auf die «Libertas» des 18. Jahrhunderts zurück – wird von einem alten Eidgenossen mit einem Lorbeerkranz gekrönt und hält die neue Bundesverfassung. Auf beiden Seiten sind statt der üblichen Allegorien Bürger dargestellt, die den Souverän verkörpern, rechts als Soldaten in Uniform, links als Hersteller von wichtigen Produkten (Textilien, Milch) in Zivil. Frauen aber, die über keine politischen Rechte verfügten, sind aus der Komposition ausgeschlossen. Schliesslich ist der vollständige Text der Bundesverfassung unter der sorgfältig komponierten Gruppe wiedergegeben. Die Darstellung symbolisiert die strahlende Zukunft, die das Inkrafttreten der Verfassung verspricht. Die Nachricht von diesem epochenmachenden Ereignis verbreitet ein Engel mit zwei Fanfaren. (Quelle Text: HLS/Historisches Lexikon der Schweiz www.hls-dhs-dss.ch/de/articles/009811/2023-06-29/)
Quelle Bild 1 Schweizerisches Bundesarchiv, Bundesverfassungder Schweizerischen Eidgenossenschaft vom 12.09.1848: https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Bundesverfassung_1848_-_CH-BAR_-_3529242.pdf
Original mit Siegel der Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft vom 12. September 1848, Einband aus Maroquinleder (Schweizerisches Bundesarchiv, Bern).
Goldene Verzierungen mit Anleihen bei Empirestil und Romantik schmücken den roten Einband des Orginalmanuskripts. In dessen Mitte prangt das seit 1815 als Wappen der Eidgenossenschaft dienende Bundeskreuz. Das Wappen findet sich auch auf dem Siegel, das die Echtheit des Dokuments garantiert, und auf der kleinen metallenen Dose, die dem Schutz des Siegels dient. Siegel und Dose sind durch eine Kordel mit zwei Quasten am Dokument befestigt. (Quelle Text: HLS/Historisches Lexikon der Schweiz www.hls-dhs-dss.ch/de/articles/009811/2023-06-29/)
Quelle Bild 2 Schweizerisches Bundesarchiv, Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft vom 12.09.1848:
https://commons.wikimedia.org/w/index.php?title=File:Bundesverfassung_1848_-_CH-BAR_-_3529242.pdf&page=4
Titelseiten der drei Sprachversionen aus dem handschriftlichen Original der Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft vom 12. September 1848, Eisengallustinte auf beschichtetem Pergament (Schweizerisches Bundesarchiv, Bern).
Das Originalmanuskript kalligrafiert den vollständigen Text der Bundesverfassung nacheinander in den Sprachen Deutsch, Französisch und Italienisch, die im Artikel 109 derselben als «Nationalsprachen» anerkannt wurden. (Quelle Text: HLS/Historisches Lexikon der Schweiz www.hls-dhs-dss.ch/de/articles/009811/2023-06-29/)
Quelle Bild 3 Schweizerisches Nationalmuseum, Zürich: https://sammlung.nationalmuseum.ch/de/maincategory
Handzeichnung. Handzeichnung. 94,5 x 72 x 1,4 cm. Ist Teil von: Handzeichnung. Bundesverfassung von 1848. Schlagwort: Bundesverfassung 1848. Herstellung: Zeichner signiert L. Lüthy; Maler Laurenz Lüthi, Solothurn. Nach 15. Mai 1848 - 27. Juni 1848. 94,5 x 72 x 1,4 cm (auf Holzraster montiert). Gouache auf Papier, kalligraphiert. Rahmen: Holz, bronziert.
(Quelle Text: HLS/Historisches Lexikon der Schweiz www.hls-dhs-dss.ch/de/articles/009811/2023-06-29/)
Lade Fotos..