Marcel Baumgartner
hat per 1. Februar 2025 die Leitung des Swiss Regiomedia AG Standorts in St.Gallen…
Fabio Grazia darf einmal in der Woche an einem Nachmittag im Zubi Spielwarengeschäft in Rorschach mit arbeiten. Wieso ist das so besonders? Fabio hat Balkenagnesie und gilt als behindert, umso dankbarer ist seine Mutter Jeannine den Geschäftsführerinnen von Zubi für die Möglichkeit, die sie ihrem beeinträchtigten Sohn geben.
Rorschach Einfach einmal Danke sagen, das ist es, was Jeannine Grazia aus Goldach möchte. Ihr behinderter Sohn Fabio darf einmal in der Woche im Spielwarengeschäft Zubi in Rorschach mitarbeiten. «Hier wird Inklusion gelebt und nicht bloss davon geredet», so die 51-Jährige. Dass das nicht überall der Fall ist, das erlebt die Mutter zweier behinderter Kinder tagtäglich. «Entweder du gehst kaputt daran oder du machst das Beste daraus», so Jeannine Grazia, während sie Fabio kitzelt, damit er für das Foto lacht. Die wenigen Freunde, die ihnen nach der Geburt des ersten behinderten Kindes noch geblieben waren, hätten sich spätestens nach dem zweiten behinderten Kind nicht mehr gemeldet. Einen Freundeskreis haben die Grazias schon lange nicht mehr, aber Jeannine Grazia zeigt Verständnis: «Wer lädt denn eine Familie mit drei Kindern beispielsweise zum 'Zmittag' zu sich ein, erst recht, wenn zwei davon behindert sind?» Selbst die Verwandten hätten sich grösstenteils abgewendet, so Jeannine Grazia.
Fabio Grazia hat Corpus-Callosum-Agenesie, ihm fehlt seit seiner Geburt der Balken zwischen seinen beiden Hirnhälften. Balkenagnesie ist eine Fehlbildung des Corpus callosum (Gehirnbalken), eine zirka zehn Zentimeter grosse Struktur, die aus etwa 250 Millionen Nervenfasern besteht und ein Netzwerk bildet, das die beiden Gehirnhälften miteinander verbindet und die Signale zwischen diesen vermittelt. «Der Gehirnbalkenmangel ist angeboren und unheilbar, weil der Balken zwischen den beiden Hirnhälften fehlt. Und trotzdem fragt die Invalidenversicherung alle zwei Jahre bei uns nach, ob Fabio und Nilo inzwischen gesund seien», erklärt Mutter Jeannine Grazia trocken. Unheilbar wird die Balkenagnesie wohl auch bleiben, denn: «Einen Balken kann man nicht in das Hirn rein operieren. Es gibt also kein Geld, wozu dann forschen?», meint Jeannine Grazia und sie zuckt mit den Schultern.
Fabios Bruder Nilo hat dieselbe Beeinträchtigung. «Die Ärzte können nicht sagen, wieso», erklärt die Mutter der beiden, Jeannine Grazia. «Alles, was ihnen dazu einfiel, war: 'Sie händ zwei Sächser im Lotto!'» Sie lacht dabei, denn für sie ist es wirklich so und sie würde ihre Söhne um keinen Preis der Welt hergeben. «Natürlich haben wir auch Sachen gehört wie: 'Warum habt ihr nach dem ersten behinderten Kind nicht aufgehört?'», fährt sie fort. Oder was sie denn mit einem Bündner wolle, da sei das ja kein Wunder, dass sowas dabei rausgekommen sei. Die Familie ist deswegen sogar zeitweise von Goldach nach Staad umgezogen. Aber auch dort sei sie für alle nur «Die Mami mit den beiden behinderten Kindern» gewesen. Dabei ist das erste Kind von Jeannine und Mann Luciano – Samuel – kerngesund. «Die Ärzte haben uns versichert, dass es unmöglich sei, dass das Kind nach Fabio ebenfalls einen Balkenmangel haben würde», so Jeannine Grazia weiter. Die Inzidenz für Balkenagnesie liegt etwa bei 1:4000 Geburten. In vielen Fällen führt das jedoch nicht einmal zu einer Beeinträchtigung, da zahlreiche Verbindungen in den zwei getrennten Hirnhälften die Vermittlungsarbeit übernehmen.
Bei Fabio kam die Behinderung für die Grazias überraschend. Als sie schwanger mit ihrem dritten Kind Nilo war, da habe sie es geahnt. «Ich habe es irgendwie gespürt», so Jeannine Grazia. Damals war es noch nicht möglich, aber inzwischen kann die Balkenagnesie sogar auch in einer Voruntersuchung abgeklärt werden. Ob sie abgetrieben hätte, wenn sie von der Behinderung ihrer Söhne gewusst hätte? «Nein!», kommt es wie aus der Pistole geschossen von Jeannine Grazia.
Inzwischen wohnen Jeannine und Luciano Grazia wieder in Goldach. Nebst Nilo und Fabio zählen zu dem Haushalt auch noch der Neffe Simon und die beiden Pflegekinder Drita und Lilly. «Und nicht zu vergessen, die Oma einen Stock darunter, die sehr viel Hilfe leistet und nicht wegzudenken ist», betont Jeannine Grazia. Dazu zwei Hunde, Schildkröten und Fische. «Die Tiere haben wir teilweise auch zu therapeutischen Zwecken», erklärt Jeannine Grazia, während sie hurtig noch die Wäsche zusammenlegt.
Ein Viertel der Personen, die ohne Gehirnbalken geboren werden, haben keine Symptome, während der Rest entweder einen niedrigen Intelligenzquotienten oder schwere kog-nitive Störungen aufweist. Von Balkenagnesie (Gehirnbalkenmangel) Betroffene zeigen in den meisten Fällen unkoordinierte willkürliche Bewegungen sowie körperliche und auch geistige Entwicklungsverzögerungen. Die Einschränkungen können von leicht- bis schwer sein. Bei den 'leichteren' Fällen kann mit Physiotherapie, Logopädie und weiteren Therapien viel gemacht werden. Jeannine Grazias Söhne zählen zu diesen 'leichteren' Fällen. Umso mehr freut sich Fabio, dass er einmal in der Woche beim Spielwarengeschäft Zubi in Rorschach wie ein ganz normaler Angestellter – natürlich mit etwas Hilfe von den Zubi Mitarbeiterinnen – mitarbeiten darf.
Beim 25-jährigen Nilo ist der Ge-hirnbalkenmangel (Corpus- Callosum-Agenesie) sichtbar, da er auf der einen Gesichtshälfte gelähmt ist und er sein Auge dort nur halb öffnen kann. Dem 27-jährigen Fabio wiederum sieht man seine Behinderung kaum an. Das obwohl er bereits sieben Augenoperationen hinter sich hat. Einzig sein starrer, glasigen Blick könnte etwas verraten. Allerdings versucht Fabio stets, Augenkontakt zu vermeiden. Dies aber nicht absichtlich: «Das ist Teil seines Autismus», so Jeannine Grazia, bevor sie zur Arbeit geht, denn Fabio kann den Weg von seinem Zuhause in Goldach zum Zubi in Rorschach, wo er nun bereits seit rund zwei Jahren jeden Donnerstagnachmittag mitarbeiten darf, ganz alleine zu Fuss und mit dem Bus zurücklegen. Wie er da so auf dem Trottoir geht, lässt auch nur sein leicht ruckartiger Gang vermuten, dass er eine Beeinträchtigung haben könnte. Niemand würde jedoch daraus schliessen, dass Fabio nur 15 bis 20 Prozent Sehvermögen hat. Und trotz dieser Sehbehinderung kann er dann Shila Glantschnigg, Co-Inhaberin vom Zubi Rorschach, im Lager von der Liste ablesen, welche Spielwaren in den Regalen des Spielwarengeschäftes wieder aufgefüllt werden müssen und diese, wenn er sie gefunden hat, abstreichen. Und die Spielwaren dann in den Regalen versorgen, das macht Fabio im Eiltempo. Nur einmal muss er Mitinhaberin Sabrina Simbula fragen, wo ein Spielzeug hingehört. Aber auch hier ist er zuverlässig und verräumt das Spielzeug nicht einfach an einem falschen Platz. Wenn doch auch mehr Jugendlichen von heute so tüchtig wären und willig zu arbeiten, finden die beiden Inhaberinnen von Zubi Spielwaren, denn: «Es ist jedes Jahr schwieriger, Lehrlinge zu finden. Aktuell haben wir nur einen Lehrling, wir könnten aber drei gleichzeitig ausbilden», meint Shila Glantschnigg. Sie hat vor 17 Jahren selbst ihre Lehre bei Zubi gemacht und nach einer Weiterbildung dann vor zwei Jahren gemeinsam mit Sabrina Simbula, die ebenfalls bereits die Lehre bei Zubi gemacht hatte, das Spielwarengeschäft an der Hauptstrasse 89 übernommen. «Wir haben ab diesem Sommer noch zwei Lehrstellen offen und würden uns freuen, motivierte Jugendliche auszubilden», so die beiden Spielzeugverkäuferinnen.
Wer Fabio nun einmal bei der Arbeit über die Schulter schauen möchte, der kann an einem Donnerstagnachmittag ein Spielzeug bei Zubi kaufen gehen. Nur Beraten tut Fabio nicht, dafür sorgt er für gute Stimmung, macht Witze und sogar Wortspiele. So soll er einen Schirm oben im Lager suchen, damit dieser im Laden unten präsentiert werden kann. «Na, wo ist der Schirm?», fragt Shila Glantschnigg. Fabio deutet zur Lampe an der Decke, welche Licht spendet – da hat es auch einen Schirm, nur nicht jenen, den Shila für das Regal im Spielwarengeschäft unten braucht. «Döttä», antwortet Fabio und grinst verschmitzt.
Von Claudia Eugster.
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